Die Geschichte eines Taschentuchs und Gedanken über Erinnerung, Verlust und Klimawandel
Kürzlich leitete ich den Workshop Roots and Routes: Storytelling for Climate and Migration Justice (z.Dt. „Wurzeln und Wege: Geschichtenerzählen für Klima- und Migrationsgerechtigkeit“). Die Teilnehmenden untersuchten, wie uns unsere eigenen Geschichten durch Veränderungen begleiten und wie die Wurzeln, die Erinnerungen und Zugehörigkeit schlagen, mit den Wegen von Migration und Anpassung verbunden sind. Ich erinnerte die Teilnehmenden daran, dass die einzige Voraussetzung für diesen Workshop war, dass sie ihre eigenen Erinnerungen und ihre Vorstellungskraft mitbrachten.
Zu Beginn der Sitzung stellte ich folgende Frage: „Was bedeutet der Klimawandel für euch in Bezug auf euer Leben, eure Community und euren Körper?” Die Antworten waren durchdrungen von einer unterschwelligen aber starken Trauer. Während die Menschen sprachen, kam diese in Form von Geschichten über verschwindende Flüsse, Vögel und Glühwürmchen, über Heilpflanzen und Lebensmittel, die nicht mehr zu finden sind, und über eine Erde, die sich immer weniger lebendig anfühlt, zum Vorschein. Eine Teilnehmerin erinnerte sich eindrucksvoll an die Wucht der Natur in ihrem Heimatland, die sich in den tosenden Wellen des Meeres offenbarte.
Es folgten Momente der Stille. Es war, als trauerten alle nicht nur um den Verlust der Natur, sondern auch um einen Teil von sich selbst, der mit ihr verschwunden war.
Climate Grief (z.Dt. Klimatrauer, meint die persönliche oder kollektive Trauer über die Veränderung des Klimas, der natürlichen Umgebung und des Wetters bzw. der Jahreszeiten), auch als Ökoangst oder Solastalgie (die durch den Verlust der vertrauten Umgebung verursachte Not) bekannt, wird von Psycholog*innen zunehmend als natürliche menschliche Reaktion auf Umweltzerstörung anerkannt. Sie stellen fest, dass klimabedingter Stress Gefühle der Hilflosigkeit, Traurigkeit und Trauer auslösen kann. Im Gegensatz zu einem persönlichen Trauerfall ist der der Verlust des Klimas jedoch kontinuierlich: eine anhaltende Trauer ohne Schlusspunkt, da sich der Schaden immer weiter ausbreitet.
Die meisten Gesellschaften bieten jedoch wenig Raum, um diesen Schmerz zu verarbeiten. Wir werden dazu ermutigt, zu recyceln, uns anzupassen oder innovativ zu sein, aber selten dazu, zu trauern. Dieser Workshop bot eine seltene Gelegenheit, innezuhalten, Geschichten auszutauschen und auf diese Weise zu trauern und schließlich zu heilen.
Unter den erzählten Geschichten stach eine besonders hervor: Eine Teilnehmerin erinnerte sich an das Taschentuch, das an ihrer Schuluniform befestigt war – ein kleines, alltägliches Symbol der Fürsorge. Damals trugen alle eines bei sich, egal, ob jemand erkältet war oder nicht. Es war ein Zeichen von Sauberkeit, Verantwortung und Achtung. Das Taschentuch war waschbar, wiederverwendbar und strapazierfähig. Diese Geschichte fand bei den meisten Teilnehmenden großen Anklang. Viele lächelten wissend bei der Erinnerung an ihre kostbaren Taschentücher.
Während unseres gesamten Gesprächs diente das Taschentuch als eindringliche Erinnerung an das, was wir verloren haben: nicht nur die Praxis der Konservierung, sondern auch die Kultur der Fürsorge, die es verkörperte. Einst war das Taschentuch ein Symbol für Würde und Selbstachtung. Es war ein fester Bestandteil der Identität jedes Schulkindes und wurde ordentlich an die Uniform geheftet – als stille Lektion in Verantwortung. Es war waschbar, wiederverwendbar und langlebig – ein Gegenstand, der sowohl Erinnerungen als auch Bedeutung in sich trug. Sein Verschwinden steht für mehr als nur einen Wandel in der Mode: Es zeigt, wie wir uns von den Werten der Beständigkeit und Verantwortung hin zu einer Wegwerfmentalität entfernt haben. Wenn wir uns an das Taschentuch erinnern, erinnern wir uns an eine Zeit, in der Sorgfalt in die kleinsten Gesten eingewoben war, in der das Aufbewahren und Wiederverwenden von Dingen sowohl praktisch als auch moralisch war.
Während sie die Geschichte erzählte, wurde das Taschentuch zu einem Spiegel, der zeigte, wie sich unser Verhältnis zu Ressourcen im Laufe der Zeit verändert hat. Unsere Eltern schienen den Instinkt zum Sparen zu verstehen. Sie schätzten Langlebigkeit und Reparatur mehr als Bequemlichkeit. Heute wurde das Taschentuch durch Einwegtaschentücher ersetzt – ein Trend, der durch die Pandemie beschleunigt wurde, da die Wiederverwendung persönlicher Gegenstände aus hygienischen Gründen nicht mehr empfohlen wurde. Doch die Teilnehmerin fragte sich laut, ob das wirklich stimmte oder ob es sich dabei nicht vielmehr um ein Symptom unserer Wegwerfkultur handelte.
Sie wurde aus dem Grund, dass sie weiterhin ein Taschentuch benutzte, sogar gehänselt. „Papiertaschentücher sind schicker“, sagten ihre Freunde. „Die kann man einfach wegwerfen.“ Aber was werfen wir wirklich weg? Die Bäume, aus denen das Papier hergestellt wird? Oder die Energie, die die Fabriken antreibt? Oder das Wasser, das für das Bleichen und die Verpackung verwendet wird? Jedes Papiertaschentuch und jedes „bequeme“ Produkt hat ökologische Kosten, die in unseren Gesprächen selten zur Sprache kommen.
Ihre Geschichte über das Taschentuch war einfach, aber zutiefst symbolisch. Sie wurde zu einer Metapher für Klimatrauer und zeigte, wie Verluste oft mit den kleinsten Details des täglichen Lebens beginnen, bevor sie sich zu globalen Krisen ausweiten. In dem Workshop warf diese Geschichte eine wichtige Frage auf: Wie kann die Rückkehr zu kleinen, nachhaltigen Gewohnheiten in die umfassendere Reaktion auf den Klimawandel integriert werden?
Ihre Antwort lautete: „Zurück zum Anfang”, also Umdenken, Wiederverwenden und Bewusstseinsbildung. Diese Idee spiegelt die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft wider, die das Reparieren und Wiederverwenden statt des Wegwerfens fördert. Über politische Debatten hinaus verdeutlicht ihre Überlegung jedoch eine praktischere Wahrheit: Dauerhafte Klimalösungen müssen von der Gemeinschaft getragen werden und dürfen nicht von oben aufgezwungen werden.